Der Mensch aus der Sicht von Bruder Wolf

Seit Sonne und Mond das Licht machen, kenne ich dich. Ich habe dich aus dem einst riesigen, undurchdringlichen Wald beobachtet. Ich war Zeuge, wie du Feuer und merkwürdige Werkzeuge erfandest. Von Bergkämmen aus sah ich dich jagen und beneidete dich um deine Beute. Ich habe die Reste deiner Mahlzeiten gegessen und du die meinen.

Ich habe deine Lieder gehört und deine tanzenden Schatten um helle Feuer gesehen. Zu einer Zeit, die so weit zurückliegt, dass ich mich kaum erinnere, schlossen sich euch einige von uns an und saßen mit am Feuer. Wir wurden Mitglieder eurer Rudel, jagten mit euch, beschützten eure Welpen, halfen euch, fürchteten euch, liebten euch.

Wir haben eine lange Zeit miteinander verbracht. Wir waren uns eher ähnlich. Daher haben euch die Zahmen adoptiert. Ich weiß, dass einige unter euch mich, den Wilden, respektieren. Ich bin ein guter Jäger. Auch ich habe euch respektiert. Ihr wart gute Jäger. Ich habe euch beobachtet, wie ihr zusammen mit den Zahmen im Rudel gejagt und Fleisch erbeutet habt.

Damals herrschte kein Mangel. Damals gab es nur wenige von euch. Damals waren die Wälder groß. In der Nacht heulten wir zu den Zahmen. Einige kamen zurück, im mit uns zu jagen. Einige fraßen wir, denn sie waren uns sehr fremd geworden. So ging es ein lange Zeit.

Es war eine gute Zeit. Manchmal habe ich dich bestohlen, so wie du mich. Erinnerst du dich, als du hungertest, der Schnee tief lag, und du das Fleisch gegessen hast, das wir getötet hatten? Es war ein Spiel. Es war eine Schuld. Manche mögen es ein Versprechen nennen. 

Wie viele der Zahmen, sind uns die meisten von Euch sehr fremd geworden. Jetzt erkenne ich einige der Zahmen nicht mehr. Jetzt erkenne ich einigen von euch nicht mehr. Einst waren wir so ähnlich. Du hast auch das Fleisch zahm gemacht. Als ich damit anfing, dein zahmes Fleisch zu jagen, hast du mich gejagt. Ich verstehe das nicht. Ich sah, dass deine Rudel größer wurden und gegeneinander kämpften. Ich habe deine großen Schlachten beobachtet. Ich tat mich gütlich an denen, die liegen blieben. Da jagtest du mich noch mehr. Ich verstehe das nicht. Sie waren Fleisch. Du hast sie getötet. 

Wir Wilden sind nicht mehr viele. Du hast die Wälder klein gemacht. Du hast viele von uns getötet. Aber ich jage noch und füttere unsere versteckten Welpen. Das werde ich immer tun. Ich frage mich, ob die Zahmen, die mit dir leben, eine gute Wahl getroffen haben. Sie haben den Geist verloren, in der Wildnis zu leben. Sie sind zahlreich, aber sie sind fremd. Wir sind wenige. Noch immer beobachte ich dich, daher kann ich dich meiden. 

Ich glaube, ich kenne dich nicht mehr.

Auszug aus "Bruder Wolf", von Jim Brandenburg